Ablaufdatum

Schirin

Heute machte ich mich auf den Weg zum Bürgerbüro, weil mein Pass abzulaufen drohte. Was ich an und für sich nicht als bedrohlich empfinden wollte, auch ein Ablaufdatum ist schließlich nichts weiter als eine Zahl.
Oder?
Denn irgendwie hatte ich trotzdem ein unbehagliches Gefühl bei der Sache: in der letzten Zeit hatten mich die fragenden Gesichter der Personen, die versucht hatten, mich anhand meines Ausweises zu identifizieren, zunehmend erschreckt. Ungläubig wanderten ihre Blicke von der lachenden, jungen Frau mit langen, blonden Haaren auf dem Passfoto zu mir und wieder zurück. Und sprachen wortlos Bände davon, dass eventuell nicht nur mein Ausweispapier sich seinem Ablaufdatum näherte.

Dem wollte ich ein Ende zu setzen.

Leider bedeutete das aber, dass ich heute der Wahrheit schonungslos  ins Gesicht sehen musste, indem ich mein  wahres Gesicht unwiderruflich in die Form eines aktuellen Passbildes pressen ließe. Und das ganze jetzt auch noch in „biometrisch“!
Was auch immer das heißen mochte, „biometrisch“, ich konnte mir einfach kein gutes Bild von diesem präexistenten Foto machen.
Bestimmt würden meine Lach- vollkommen in meinen Sorgenfalten versinken, wenn ich dem Fotographen nicht die Zähne zeigen durfte. Und meine silbrig schimmernde Haarpracht würde gnadenlos grau - Strähne für Strähne - in Cellulose gebannt erscheinen und nach einer pflegeleichten Kurzhaarfrisur aussehen. Und mich ganz schön alt aussehen lassen.

„Man ist so alt wie man sich fühlt!“ motivierte ich mich heute Morgen, schnappte mir meinen Rollator und machte mich auf den unvermeidlichen Weg ins Fotostudio, um gute Miene zum altersadäquaten Bild zu machen. Und zu versuchen, mich dabei einigermaßen vorteilhaft ins rechte Licht zu rücken.
Nachdem ich meinen Rollator  in dem barrierefreien Fotostudio direkt neben dem Stuhl der Lebensmessung (oder wie übersetzt man Biometrie?) eingeparkt hatte, lauschte ich angestrengt den verwirrenden Anweisungen des Fotographen:  Lächeln dürfte ich, aber dabei keinesfalls die Zähne dabei zeigen und ich sollte unbedingt frontal in die Kamera spucken.
„Frontal in die Kamera spucken?“ wiederholte ich ungläubig und kratzte mich am Ohr, an dem offensichtlich inzwischen auch schon der Zahn der Zeit genagt hatte. Als mir das schließlich klar wurde, war lange an kein biometrisches Passbild mehr zu denken. Sowohl der Fotograph als auch ich kugelten uns vor Lachen (mit Zähnen).
„Gucken!“, hatte er natürlich gesagt.
Als er wieder Luft bekam, meinte er erleichtert:
„Da bin ich ja froh, dass Sie vorher noch einmal nachgefragt haben!“
Unter Anwendung  meiner gesamten sportlichen und physiotherapeutischen Erfahrungen der vergangenen 52 Jahre gelang es mir schließlich, mein Lachen hinter meiner mit Höchstspannung arbeitenden Mundmuskulatur einzusperren.

Ob ich zufrieden damit sei, fragte mich der Fotograph, als das Bild schließlich ausgedruckt vor uns lag. Unvermittelt fiel mir eine Freundin ein, der an dieser Stelle des Procederes von einem etwas weniger sensiblen Exemplar der Belichtungskunst gesagt wurde: „Das gefällt mir nicht.“ Woraufhin sie erwiderte: “Mir auch nicht, aber was soll ich machen, das ist nun mal mein Gesicht!“
„Passfotos heißen so, obwohl sie keinem passen.“ formulierte Klaus Klages einmal treffend.
Also murmelte ich nur: “Das bin ich.“, zahlte und ging, die Bilder meines biometrischen Ablaufs in der Tasche. Und einem Lächeln auf den Lippen. Immer noch die angenehmste Art, meinem Ablaufdatum die Zähne zu zeigen.