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Rückzug

Rückzug
Kisten, Kisten, Kisten, wochenlang war meine Zweizimmerwohnung, ursprünglich barrierefrei geplant, vollgestopft mit Kartons. Die mich überall in meinen knapp 60m² behinderten. Denn wegen eines positiven Coronakontaktes direkt vor meinem Wiedereinzug in meine nach der Flutkatastrophe sanierten 4 Wände, gestaltete sich dieser ziemlich einsam.
Buchstäblich zum Rückzug. Ich isolierte mich, weil ich nicht wusste, ob ich mich infiziert hatte. Und packte Kisten aus. Und spülte. Und suchte Sachen.
Inzwischen bin ich wieder wie gewohnt negativ.
Getestet.
Was ja heutzutage positiv ist.
Also genoss ich vorsichtig wieder Begegnungen mit hoffentlich ebenfalls negativen Menschen. Meistens Handwerkern. Meine sympathischen Helfer bei meinem Auszug im letzten Juli waren leider zum großen Teil positiv. Oder in Quarantäne.
Zu der Zeit fragte mich eine Nachbarin, ob ich mich schon gut wieder eingelebt habe. Ich dachte an den Kistendschungel, durch den ich mich abends nach vielen erzwungenen Boxenstopps in mein Bett kämpfte. Töpfe, Lampen und Spülstöpsel, die noch nicht wieder aufgetaucht waren. Stapel von Handwerkerrechnungen, auszufüllenden Hilfsanträge und zeitraubende Korrespondenz mit Versicherungen und der Hausverwaltung. An den von meiner Krankenkasse abgelehnten Rehaantrag mit der Aufforderung, ich solle doch die, in der letzten Reha erlernten, Übungen machen. An den im letzten halben Jahr zur lieben Gewohnheit gewordenen, morgendlichen Kaffee mit meiner Schwägerin, der mir fehlte.
Also erwiderte ich zögernd: „Ich wohne schon, aber ich lebe noch nicht so richtig.“

Das hat sich seit letzte Woche Donnerstag - Gott sei Dank - geändert. Der Bücherschrank wurde aufgestellt!
Natürlich ist er noch nicht ganz fertiggestellt.
Und natürlich habe ich - auf Grund meines täglich nur eng bemessenen Energiebudgets - noch längst nicht wieder alle Bücher aus ihren Kartons befreien können.
Aber mein Bett ist jetzt abends, trotz zunehmender Dunkelheit, schon einfacher hinter dem deutlich geschrumpften Kistenstapel zu erspähen.
Und in meinem Zuhause sind jetzt wieder brilliante, amüsante, inspirierende oder atemberaubende, zu Tränen rührende, auch zu Lachtränen, spannende oder entspannende, eben einfach erlesene Gedanken greifbar.
Sichtbar.
In Buchdeckeln eingebunden.

Ich wohne nicht mehr nur, ich lebe wieder! 😊

Kommentare

 
AlTa 22.02.2022 10:04
Sehr schön zu lesen. Ich fühle es richtig 🌺 mach weiter auf deiner so inspirierenden Reise durch die neue Wohnung. Viel Erfolg 🍀 
 
Gesellschaft 22.02.2022 10:12
Konnte ich gerade gut nachfühlen, hatte das gleiche „Chaos“ vorletztes Jahr. Musste ohne Küche einziehen, die kam erst 3 Wochen später, das war ein richtiges Abenteuer, aber gut für‘s Dankbarkeitsgefühl 🙏😉

Ich wünsche Dir baldigen „Endspurt“ und gutes Ankommen!!! 😁
 
(Nutzer gelöscht) 22.02.2022 10:58
Ich glaube, wer das nicht selbst erlebt, kann kaum erahnen, wie Du Dich zurück kämpfen musst.
Ich persönlich hätte zudem bestimmt vor allem davor Angst, dass sich all das wiederholen könnte.
Ich wünsche Dir ganz viel Kraft!
 
Schirin 22.02.2022 10:59
@ Aita: Meine Kreise ziehen sich wieder weiter und ich reise schon im 500m Radius um meine Wohnung herum zwinkerndes Smiley
 
Schirin 22.02.2022 11:08
@ Gesellschaft: Eine gute Küche ist wirklich ein Stück Lebensqualität! Im Juli nach der Flut hatte ich erst keinen Strom mehr, dann keinen Herd und keine Spülmacshine, dann 2 geliehene Kochplatten. Leider waren zu dem Zeitpunkt meine Töpfe schon in Kisten eingelagert. Das letzte halbe Jahr wohnte ich in einem Gästeapartment mit 2 Kochplatten aber ohne Spülmaschine oder Arbeitsplatte. Bei meinem "Rückzug" hatte ich daher drum gebeten, die Küche wieder als erstes einzubauen. Leider blieben dann meine Töpfe noch tagelang verschwunden, es stellte sich heraus, dass noch 2 Kisten im Möbellager vergessen worden waren.
Ich glaube, ich war noch nie in meinem Leben so dankbar für meine Küche (mit kleiner Spülmaschine!), wie heute.
 
Schirin 22.02.2022 11:10
@Ichselbst: In den vergangenen Orkantagen und besonders -nächten war mir schon sehr mulmig zumute. In der Antonianacht habe ich sehr schlecht geschlafen. Ich habe viel gebetet.
 
(Nutzer gelöscht) 22.02.2022 11:20
Das kann ich sehr gut nachfühlen! Solch Erlebtes erschüttert bis in's Mark und das Urvertrauen ist davon nicht auszuschließen.
An all die ideellen Wertverluste wage ich gar nicht zu denken.
Ersetzbar ist vieles, aber eben so vieles leider nicht...
 
(Nutzer gelöscht) 22.02.2022 11:22
Schirin, dein Text ist eine Stimme von vielen, die davon betroffen waren. Und du schreibst immer so lebendig und phantasievoll, dass man sich in deine Situation hineinfinden kann. 
Was mir immer wieder auffällt, ist dass du niemals klagst, wenn dann gibt es eine kleine Spur von Melancholie. 
Ohne dir dessen bewusst zu sein, sind deine Texte für mich ein Kraftquell.
Ich wünsche dir auch, dass du wieder angekommen bist.
 
Schirin 22.02.2022 11:49
@ Ichselbst: Meine Tagebücher, mein Fotoalbum und viele antiquarische Bücher sind weg. Aber das Wichtigste ist mir geblieben, meine Kinder, meine Freunde und der Gott, der mich durchträgt.
 
Schirin 22.02.2022 11:50
Danke Panki, Deine Worte berühren mich. Ich schlappe Hacke ein Kraftquell? Du machst mir Mut!
 
(Nutzer gelöscht) 22.02.2022 12:03
„Was mir immer wieder auffällt, ist dass du niemals klagst, wenn dann gibt es eine kleine Spur von Melancholie.“

Panki, Menschen, die glauben, tun sich damit leichter. Ein starker Glaube ist ein guter „Sinngeber“, und einen Sinn in jeglichem Ereignis sehen oder zumindest vermuten zu können, hilft, dieses zu akzeptieren und aktiv damit umzugehen. Das muss kein Glaube im herkömmlichen Sinne sein, daran zu glauben, dass es einen irgendwie gearteten (höheren) Sinn gibt, reicht. Oder zumindest, einen Sinn in der eigenen Existenz zu sehen, eine Lebensaufgabe für sich zu definieren, hilft, in schwierigen Zeiten daran festzuhalten. 

Ich liebe das Zitat von Viktor Frankl, der als einziger seiner Familie das KZ überlebt hat: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“
 
(Nutzer gelöscht) 22.02.2022 12:04
Schirin, mir geht es wie Panki. Ich liebe deine Texte und deine immer wieder spürbare Einstellung.
 
sophi1 22.02.2022 12:13
Mut, Schirin, ist das, was jeder, der dieses Trauma erleben musste, jetzt braucht!
Ich merke, du bist nicht klein zu kriegen, zum Glück!  Bewundernswert, wie du aus den Unzulänglichkeiten immer wieder das Beste machst und dazu mit deinen Schilderungen anderen zeigst, es geht wieder aufwärts, weil es sein muss.
(Ich denke immer an den Spruch der im Flur der Eltern meiner Schulfreundin hing - vor 60 Jahren - : Das sind die Starken der Welt, die unter Tränen lachen und anderen Freude machen!

Pass auf dich bitte auf und übernimm dich nicht !
😉☀
 
(Nutzer gelöscht) 22.02.2022 12:15
Mir hat es ganz besonders dieser Absatz angetan:
„Aber mein Bett ist jetzt abends, trotz zunehmender Dunkelheit, schon einfacher hinter dem deutlich geschrumpften Kistenstapel zu erspähen.
Und in meinem Zuhause sind jetzt wieder brilliante, amüsante, inspirierende oder atemberaubende, zu Tränen rührende, auch zu Lachtränen, spannende oder entspannende, eben einfach erlesene Gedanken greifbar.
Sichtbar.
In Buchdeckeln eingebunden.

Ich wohne nicht mehr nur, ich lebe wieder! 😊“

Das ist so schön beschrieben… und ich bei mir entstehen sofort lebendige Bilder zu deinen Gedanken. 
 
rollihexle 22.02.2022 12:32
Schön Dich wieder zu Lesen, so wie es nun tönt hast das meiste nun hinter Dir und kannst nun in Zukunft schauen und die 500 Meter werden täglich mehr.

Der Satz: Ich wohne nicht mehr nur, ich lebe wieder! 😊 ist wunderschön, ich wünsche Dir weiterhin viel 🍀 🍀 🍀  den rest schaffst Du auch noch.

 
Schirin 22.02.2022 13:03
🙂
 
Schirin 22.02.2022 13:12
@ aletheia: Viktor Frankl steht auch in meinem Regal, die Logotherapie halte ich für eine der besten Psychotherapien (obwohl die deutschen Krankenkassen sie leider nicht bezahlen)
 
(Nutzer gelöscht) 22.02.2022 13:18
Ich hab mich nur theoretisch mal mit der Logotherapie beschäftigt. Eine Therapie selbst hab ich nie gemacht. Allerdings wäre auch für mich die Logotherapie die erste Wahl. Übrigens spielt Sinnhaftigkeit auch im Konzept der Salutogenese eine wichtige Rolle. 
 
Gesellschaft 22.02.2022 14:18
„Und wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“ 😊
 
rollihexle 22.02.2022 15:08
14:03 bitte Löschen, Danke.

Vergiss den Schmerz von gestern, genieße das Geschenk von heute und bleib optimistisch für morgen.

~ Verfasser Unbekannt ~
 
Monotracer 22.02.2022 21:51
Hallo Schirin, Du starke Frau,
ich gehöre zu den wenigen Überlebenden der "Stahlhütte" in Dorsel an der Ahr. - Bei mir gab es keine Küche, keine Kartons ! Mein Haus versank in den Fluten und mit ihm 7 Freunde und Nachbarn in den Tod (siehe Youtube: Feuerwehrmädchen Katharina Maria Kraats). - Dennoch; ich habe nichts "verloren" !!! - Alles was in den Fluten versank, ist lebendig....In meinem Geist; in meinem Herzen und in meiner Seele ! Und auch ich lache unter Tränen über die Antragsformulare, die sich mit meinen 76 Jahren vielleicht durch den Ablauf der Zeit, unter dem staatlichen Zynismus wie von alleine, auf natürlichem Wege erledigen ! -

Bleib stark liebe Leidensgenossin und gib auf Dich Acht. - Das Leben ist schön......Und wenn es denn nur noch ein schäbiger Rest von Minuten wäre !! Ich gäbe niemals auf !!!
 
Schirin 22.02.2022 22:34
@ Monotracer: keine Kisten, keine Küche , kein Haus mehr, kein Rückzug möglich. Da jammer ich ja auf hohem Niveau!
Ich glaube, wir sind nicht nur Leidens-, sondern auch Lachgenossen, Humor hilft.
Ich ziehe den Hut vor Dir!
 
Monotracer 23.02.2022 00:36
Danke liebe Schirin,
für Deine Anerkennung und Wertschätzung. Ich übe mich weiter in Bescheidenheit. Humor kann Leben retten ! Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft. - Und immer auf die Stimme des Herzens hören, denn das Herz macht Überlebenspläne, von denen der Verstand keine Ahnung hat. - Glaube weiter an Dich !!!
 
Schirin 23.02.2022 13:12
@ Monotracer : PN
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