Lesefrucht
24.07.2022 15:52
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Fjedor rief am 22. Juli die lesende Bevölkerung auf, ihre Wertschätzung interessanter Bücher, die dem Mainstream nicht (mehr) geläufig sind mit der HL-Community zu teilen. Da sein Aufruf, in den ich meine Empfehlung eingetragen habe inzwischen einige Seiten her ist hier noch einmal mein Text:
Ich möchte Euch das Buch DEZEMBERFAHRT von Matthias Vernaldi ans Herz legen. Der autobiografische Roman setzt den behinderten Kindern ein lebendiges Denkmal, die in den 60er Jahren in der DDR (im Westen war es um diese Zeit nicht anders) in Krankenhauseinrichtungen mit Schulbetrieb eingesperrt und misshandelt wurden.
Wir schreiben das Jahr 1989. Die DDR bricht zusammen. Theodor Siebenstück, der in einer Wohngemeinschaft lebt, befindet sich auf einer Erinnerungsreise zu den Orten seiner Kindheit. Er wird begleitet von Kulle. Theo, Anfang dreißig, wurde mit progressiver Muskeldystrophie geboren und kann sich immer weniger bewegen. Er kann sich nicht allein waschen, anziehen, auf die Toilette gehen, umsetzen. Dennoch ist er ein junger Mann voller Lebenskraft und funkelndem Geist, Teil der Oppositionsbewegung in Thüringen, der sich schon als Junge auf kein Abstellgleis schieben ließ, nicht zuletzt auf keinen Fall auf das sexuelle.
Siebenstück ist das Alter Ego des Autors und Aktivisten Matthias Vernaldi, der 2020 im 61. Lebensjahr starb. Die Ärzte hatten ihm prophezeit, grade so die Pubertät, jedoch keinesfalls das 25. Lebensjahr zu erleben.
Der Roman ist unendlich mehr als ein Lebensbericht, ist hochkarätige Literatur. Mitunter drastisch, in deftiger, ungeglätteter Sprache beschreibt der gebürtige Thüringer Siebenstücks Lebensgeschichte als Teil der Geschichte der Behinderten in der DDR und aus dessen Perspektive das Geschehen in der Gegenwart von 1989.
Vernaldi schuf mit Siebenstück die literarische Figur eines Menschen, der, die Dinge in aller Komplexität präzise reflektierend, sich durch schwerste Behinderung nicht davon abhalten lässt „zu leben, zu leiden, zu freuen sich“ - und an den gesellschaftlichen Kämpfen teilzunehmen. Wie kein anderer Autor beschreibt er das Leben eines Protagonisten, der sonst auch in der Welt der Literatur durch das Raster des angstvollen Apartheit-Blicks fällt. Stattdessen, eingebettet in ein Kaleidoskop von Bildern aus der Zeit zwischen 1965 und 1989 die differenzierte Schilderung von Siebenstücks Erfahrungen, auch seines Alltags, etwa der kleinsten Bewegungen, die zum Beispiel morgens geschehen, wenn Kulle Theo aus dem Bett holt, der dies nicht stumpf über sich ergehen lässt, sondern mit Leib, Geist und Seele dabei ist, ein fühlender Mensch. Indem er diese Lebendigkeit zeigt, zeigt, wie wach, produktiv und lebenswert (nicht nur einst) als lebensunwert angesehenes Leben sein kann, erweitert der Autor pionierhaft die Dimension des Menschlichen in der Literatur.
Das, übrigens auch sehr humorvolle, 1995 erschienene Buch ist total vergriffen und in keiner Bibliothek, jedoch im Internet als PDF-Datei zu finden:
https://archiv-behindertenbewegung.org/media/dezemberfahrt.pdf
Matthias Vernaldi gründete 1978 in Hartroda in Thüringen mit behinderten und nicht behinderten Freunden eine legendäre Wohngemeinschaft, die sich zum Treffpunkt vieler wacher, unangepasster Geister entwickelte, die nicht nur zu ausgelassenen Sommerfesten aus dem ganzen Land nach Hartroda pilgerten, Wehrdienstverweigerer beriet, über sozialistische Umweltzerstörung aufklärte und so, wie nach der Wende ein großer Haufen Akten an den Tag brachte, in den Fokus der Stasi geriet und Ziel der Zersetzungsstrategien des Geheimdienstes wurde.
Ab Mitte der 90er Jahre lebte und arbeitete er mit 24-Stunden-Assistenz in Berlin-Neukölln.
Seit 2020 verleiht die Kaspar-Hauser-Stiftung jährlich den mit 1000 Euro dotierten Matthias-Vernaldi-Preis für selbstbestimmtes Leben an Menschen, die sich für dieses einsetzen.
Wer sucht, findet auf Facebook und an vielen weiteren Orten im Netz Informationen, Fotos, Filme über, mit und von Matthias Vernaldi.
Ich möchte Euch das Buch DEZEMBERFAHRT von Matthias Vernaldi ans Herz legen. Der autobiografische Roman setzt den behinderten Kindern ein lebendiges Denkmal, die in den 60er Jahren in der DDR (im Westen war es um diese Zeit nicht anders) in Krankenhauseinrichtungen mit Schulbetrieb eingesperrt und misshandelt wurden.
Wir schreiben das Jahr 1989. Die DDR bricht zusammen. Theodor Siebenstück, der in einer Wohngemeinschaft lebt, befindet sich auf einer Erinnerungsreise zu den Orten seiner Kindheit. Er wird begleitet von Kulle. Theo, Anfang dreißig, wurde mit progressiver Muskeldystrophie geboren und kann sich immer weniger bewegen. Er kann sich nicht allein waschen, anziehen, auf die Toilette gehen, umsetzen. Dennoch ist er ein junger Mann voller Lebenskraft und funkelndem Geist, Teil der Oppositionsbewegung in Thüringen, der sich schon als Junge auf kein Abstellgleis schieben ließ, nicht zuletzt auf keinen Fall auf das sexuelle.
Siebenstück ist das Alter Ego des Autors und Aktivisten Matthias Vernaldi, der 2020 im 61. Lebensjahr starb. Die Ärzte hatten ihm prophezeit, grade so die Pubertät, jedoch keinesfalls das 25. Lebensjahr zu erleben.
Der Roman ist unendlich mehr als ein Lebensbericht, ist hochkarätige Literatur. Mitunter drastisch, in deftiger, ungeglätteter Sprache beschreibt der gebürtige Thüringer Siebenstücks Lebensgeschichte als Teil der Geschichte der Behinderten in der DDR und aus dessen Perspektive das Geschehen in der Gegenwart von 1989.
Vernaldi schuf mit Siebenstück die literarische Figur eines Menschen, der, die Dinge in aller Komplexität präzise reflektierend, sich durch schwerste Behinderung nicht davon abhalten lässt „zu leben, zu leiden, zu freuen sich“ - und an den gesellschaftlichen Kämpfen teilzunehmen. Wie kein anderer Autor beschreibt er das Leben eines Protagonisten, der sonst auch in der Welt der Literatur durch das Raster des angstvollen Apartheit-Blicks fällt. Stattdessen, eingebettet in ein Kaleidoskop von Bildern aus der Zeit zwischen 1965 und 1989 die differenzierte Schilderung von Siebenstücks Erfahrungen, auch seines Alltags, etwa der kleinsten Bewegungen, die zum Beispiel morgens geschehen, wenn Kulle Theo aus dem Bett holt, der dies nicht stumpf über sich ergehen lässt, sondern mit Leib, Geist und Seele dabei ist, ein fühlender Mensch. Indem er diese Lebendigkeit zeigt, zeigt, wie wach, produktiv und lebenswert (nicht nur einst) als lebensunwert angesehenes Leben sein kann, erweitert der Autor pionierhaft die Dimension des Menschlichen in der Literatur.
Das, übrigens auch sehr humorvolle, 1995 erschienene Buch ist total vergriffen und in keiner Bibliothek, jedoch im Internet als PDF-Datei zu finden:
https://archiv-behindertenbewegung.org/media/dezemberfahrt.pdf
Matthias Vernaldi gründete 1978 in Hartroda in Thüringen mit behinderten und nicht behinderten Freunden eine legendäre Wohngemeinschaft, die sich zum Treffpunkt vieler wacher, unangepasster Geister entwickelte, die nicht nur zu ausgelassenen Sommerfesten aus dem ganzen Land nach Hartroda pilgerten, Wehrdienstverweigerer beriet, über sozialistische Umweltzerstörung aufklärte und so, wie nach der Wende ein großer Haufen Akten an den Tag brachte, in den Fokus der Stasi geriet und Ziel der Zersetzungsstrategien des Geheimdienstes wurde.
Ab Mitte der 90er Jahre lebte und arbeitete er mit 24-Stunden-Assistenz in Berlin-Neukölln.
Seit 2020 verleiht die Kaspar-Hauser-Stiftung jährlich den mit 1000 Euro dotierten Matthias-Vernaldi-Preis für selbstbestimmtes Leben an Menschen, die sich für dieses einsetzen.
Wer sucht, findet auf Facebook und an vielen weiteren Orten im Netz Informationen, Fotos, Filme über, mit und von Matthias Vernaldi.
Kommentare
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(Nutzer gelöscht) 24.07.2022 15:59
Schön, dass Du das noch mal separat schreibst! Macht Lust aufs Lesen 🙂