Die Wunschbeutelchen

Die Wunschbeutelchen
Leonie sah dem davonfahrenden Auto ihrer Eltern hinterher, bis es hinter der letzten Wegbiegung verschwunden war. Sie seufzte leise und drehte sich langsam zu dem kleinen Häuschen um, welches nun schon seit über 200 Jahren oben auf den Klippen stand und Wind und Wetter getrotzt hatte. Unten in der Bucht lag verschlafen die kleine Hafenstadt Charleston.
Vom Meer her zogen Unheilverheißend dunkle Wolken herauf und gaben dem kleinen Häuschen noch zusätzlich ein gespenstisches Aussehen.
Leonie schauderte. Ob es darin wohl spukte? Sie wurde jäh aus ihren düsteren Gedanken gerissen, als die Türe aufflog und ihre Großtante sie mit einem breiten, freundlichen Lächeln begrüßte.
Leonie hingegen war es so gar nicht nach lachen zumute. Ihr grauste bei der Vorstellung die kommenden sechs Wochen in diesem abgeschiedenen Spukhaus verbringen zu müssen! Viel lieber wäre sie mit ihren Eltern auf große Schiffsreise gegangen. Aber nein, die wollten ja unbedingt ohne ihre Tochter verreisen, die sie stattdessen dazu verdonnert hatten, ihre langen Sommerferien mit einer alten, wunderlichen Lady zu verbringen, die sie kaum kannte und von der sie kaum etwas wusste. Mal abgesehen von den äußerst seltsamen Geschichten, die sie im Lauf der Zeit über dieses Haus und dessen Bewohnerin aufgeschnappt hatte.
„Nun komm doch erstmal rein!“ Großtante Rosafeen stand immer noch lächelnd in der Tür. „Du musst ja völlig durchgefroren sein bei diesem Wetter! Ich habe uns schon einen leckeren Tee gekocht, der wird dich aufwärmen!“
Bald darauf saßen Leonie und die alte Dame in einer kleinen gemütlichen Bibliothek zusammen, beide eine dampfende Tasse Tee in der Hand. Und obwohl das Mädchen sich ganz fest vorgenommen hatte, in diesem Haus alles ganz furchtbar schrecklich zu finden, schlug der kleine Raum mit den hohen Regalen , die über und über mit Büchern gefüllt waren, sie augenblicklich in seinen Bann. Neugierig blickte sie sich um. So, dass sie bald gar nicht mehr mitbekam, was ihre Großtante, die fröhlich vor sich hinplapperte alles erzählte.
Das Läuten des Telefons irgendwo im Haus ließ Leonie aufschrecken. Tante Rosafeen verließ trippelnden Schrittes den Raum, nur um gleich darauf mit hochrotem Kopf wieder zu erscheinen. „Entschuldige, meine Kleine, keuchte sie. Ich muss Dich leider kurz allein lassen, um eine wichtige Besorgung zu machen, Du kommst ja zurecht. Bin gleich wieder da!“ Bevor Leonie noch etwas erwidern konnte, war ihre Tante auch schon davongefegt. Die Haustür fiel hinter ihr ins Schloss.

Als Leonie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, sah sie sich noch einmal in der Bibliothek um. Das Bücherregal gegenüber schien sie plötzlich wie magisch anzuziehen. Sie stand langsam auf und ihre Füße gingen wie von selbst auf das Regal zu. Als sie davor stand, stach ihr ein altes, schon ziemlich zerflettertes Buch ins Auge und als sie danach greifen wollte, fiel es ihr wie von selbst in die Hand. Das Buch sah aus wie ein uraltes Logbuch. Sofort begann das Mädchen zu lesen und merkte bald, dass sie die vergilbten Aufzeichnungen eines alten Piraten in den Händen hielt, Aufzeichnungen über die Suche nach einem wertvollen Schatz, dem geheimnisvolle Kräfte nachgesagt wurden. Laut der Legende sollten die Steine, aus denen der Schatz bestand, die Herzenswünsche der Menschen erfüllen, an die sie verschenkt werden würden. Deshalb nannte man sie Wunschsteine. Der alte Pirat hatte nun fast sein ganzes Leben lang nach der verschollenen Schatzhöhle gesucht. Nun, da er spürte, dass er nicht mehr lange leben würde, hatte er die Geschichte seiner Suche aufgeschrieben und verfügt, dass derjenige mit der Suche fortfahren sollte, dem diese Aufzeichnungen in die Hände fielen….

Inzwischen war es dämmrig geworden. Während sie gebannt weiterlas, streckte Leonie den Arm nach dem Lichtschalter aus und staunte nicht schlecht, als sie plötzlich eine Türklinke in der Hand hatte. Erschrocken sprang sie auf und starrte mit großen Augen auf eine kleine Tür in der Wand! Wo kam die plötzlich her? Obwohl sich alles in ihr sträubte, drückte sie langsam und zitternd die Klinke hinunter. Leonie konnte nicht anders, sie musste den Gang betreten. Quietschend sprang das Türchen auf und das Mädchen starrte in gähnende Finsternis. Sie konnte nicht anders als den Gang zu betreten, auch wenn ihre Angst sie zu erdrücken schien. Mit beiden Händen tastete sie sich vorsichtig an den Wänden entlang, die sich feucht und glitschig anfühlten. Der faulige Geruch nach nasser Erde raubte ihr fast den Atem. Ihr wurde schwindelig und sie verlor jegliches Zeitgefühl.

Leonie wusste nicht, wie lange sie so vorangetaumelt war, als sie plötzlich irgendwo in der Ferne ein hohes, klirrendes Summen vernahm. Ein lindgrüner Schein ließ sie die Torbogenartige Form des Ganges erkennen. Die Feuchtigkeit an den schwarzen Steinwänden schimmerte in dem mysteriösen Licht. Neugierig ging sie schneller vorwärts. Das wabernde Grün hüllte sie ein; Plötzlich stand sie in einer greisrunden Höhle. Nun konnte sie auch die Quelle des wabernden Grüns ausmachen: Es kam direkt von der Decke, die gegenüberliegende Wand strahlte in allen Farben des Regenbogens! Vor dem Lichterspiel entdeckte sie beim Näherkommen eine alte, wurmstichige Holzkiste, welche mit einem rostigen Vorhängeschloss versehen war.
PENG! Leonie ging vor Schreck in die Knie, die geheimnisvolle Kiste hatte sich wie von Geisterhand selbst geöffnet. Sie rappelte sich langsam auf. Ihre Knie fühlten sich an wie Wackelpudding und sie schaffte es kaum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, hatte sie die Kiste erreicht und schaute erwartungsvoll hinein. Was sie sah, überraschte sie: Die Truhe war bis zum Rand mit kleinen samtenen Säckchen gefüllt. Obenauf lag ein zerschlissenes Pergament. Leonie rollte das brüchige Schriftstück behutsam auseinander und las:

Suchender- nun bist Du am Ziel!
Die Kiste enthält der Wunschbeutelchen viel.
Wenn Du sie verschenkst an liebe Menschen
Dürfen die sich etwas wünschen.
Sie können sie aber auch weiterverschenken
Und mit ihren Wünschen andere bedenken.
Doch sollt ihr beim Wünschen vorsichtig sein,
dass Glück und Frieden weitergedeihn!

Leonie legte das Pergament sachte zur Seite und angelte nach einem der Beutelchen. Sie staunte nicht schlecht- es war bis oben gefüllt mit Edelsteinen! Rasch steckte sie so viele Beutelchen ein, wie die Taschen ihres weiten Kleides tragen konnten. Gerade hatte sie das letzte Beutelchen eingeschoben, als der Kistendeckel mit einem Schlag ins Schloss fuhr….

Von weitem hörte Leonie ihren Namen rufen. Sie blinzelte und schaute in das Gesicht von Tante Rosafeen. Verdutzt blickte sie sich um- wie kam es, dass sie plötzlich wieder in dem gemütlichen Ohrensessel der Bibliothek saß? Bis eben war sie doch noch in der Schatzhöhle des Piraten gewesen! Schmunzelnd schüttelte das Mädchen den Kopf: Verrückt, was man nach einer so langen Reise alles träumt. Sie rieb sich die Augen und wollte aufstehen, um ihrer Tante ins Esszimmer zu folgen, als ihr etwas vom Schoß fiel. Verwundert sah sie zu Boden und erschrak – auf das am Boden liegende Wunschbeutelchen schienen rot die letzten Strahlen der untergehenden Abendsonne…

NB.

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