Kleine Wunder

Kleine Wunder
Die Tür fiel ins Schloss und Jonas war nun ganz allein in dem Krankenzimmer.

Er versuchte sich auf die Seite zu legen, mit dem ungewohnten Gips an seinem linken Bein war es für ihn aber nicht einfach. Aber wenigstens hatte er keine Schmerzen mehr.

Jonas erinnerte sich an die letzten Stunden…, an seinen Sturz vom Klettergerüst…, seinen heftigen Schmerz im Bein… Dann ging alles sehr schnell: Kinder und Erwachsene umringten ihn, redeten auf ihn ein…, plötzlich hatte er eine Decke unter seinem Kopf… und schon kurze Zeit später war der Krankenwagen da, der ihn ins nächste Krankenhaus fuhr…

Nun lag er alleine in einem Zimmer im Krankenhaus und hatte Sehnsucht nach seiner Mama und seinem Papa. ‘Ob sie ihn wohl bald besuchen kommen würden? … Und was würde wohl morgen sein, am Heiligen Abend?’ Bei dem Gedanken, dann hier ganz alleine liegen zu müssen, traten ihm die Tränen in die Augen. ‘Und ich habe mich doch so auf morgen gefreut’, dachte er und weinte leise…

„Jonas“ rief plötzlich eine leise Stimme.

Jonas stutzte, hob seinen Kopf und sah sich im Zimmer um, konnte aber niemanden entdecken.

„Jonas“ rief wieder jemand. Die Stimme schien direkt aus seinem Ranzen zu kommen.

‘Sollte etwa… ach Quatsch. Kuscheltiere können nicht reden…’ schalt er sich. Dennoch beugte er sich über den Rand des Bettes und öffnete den Schulranzen, der neben seinem Nachttisch stand. Er musste nicht lange suchen, bis er seinen kleinen zerzausten Hasen „Carlo“ fand, der ihn überall hin begleitete.

„Endlich, Jonas“ sagte dieser plötzlich. „Ich dachte schon du würdest mich nie hören.“

Jonas war sprachlos, rieb sich die Augen und blinzelte verwundert. „Carlo…, wieso… kannst du plötzlich reden… oder träume ich…?“

„Nein, Jonas, du träumst nicht. Weißt du denn nicht, dass am Vorabend von Heilig Abend alle Dinge reden können?“

„Nein,“ gestand Jonas. „Das finde ich aber total toll, Carlo. Jetzt fühle ich mich gar nicht mehr so allein.“ Er drückte Carlo an seine Brust und umarmte ihn sanft. „Aber warum kannst du heute reden?“

„Oh, das ist gar nicht so leicht zu erklären, aber ich will es versuchen.“

Jonas schien es fast, als würde sich Carlo ein wenig näher an ihn kuscheln, ehe er begann;

„Vor langer, langer Zeit lebte ein Gott in einem schönen Schloss irgendwo weit, weit weg. Dieser Gott war voller Liebe, aber diese Liebe konnte er niemandem schenken, denn er war ganz allein auf der Welt.

Als er eines Tages einsam durch seinen wunderschönen göttlichen Garten lustwandelte, bekam er eine grandiose Idee und begann in einem großen Eimer ganz viel Erde zu sammeln. Dann setzte er sich gemütlich in seinen Gartenstuhl, griff in den Eimer mit der Erde, formte sie ein wenig und hauchte ihr mit seinem Atem Leben ein. Zum Schluss legte er die Hände mit der Erde an sein Herz, um sie mit seiner Liebe zu bestrahlen, warf sie in die Luft und rief ‘Und ihr werdet Planeten…’ Und alle Planeten entstanden. Na ja, er war eben Gott.

Das tat er so lange, bis das Weltall mit allen Planeten, Sonnen und Sternen…, mit Bergen, Seen und Flüssen… und mit all den Tieren und Pflanzen fertig war.

Zufrieden betrachtete er sein Werk, aber es war alles noch so still. Gott hatte die Töne vergessen. Er holte also tief Atem und ließ seinen göttlichen Ton „AUM“ über der Welt erschallen. Nun waren die Töne geboren und die ganze Welt war erfüllt von göttlichen, wunderschönen Klängen.

Gott wollte sich nun gern ausruhen, als er bemerkte, dass sich noch ein wenig Erde in seinem Eimer befand. Er überlegte nicht lange und so schuf er die Menschen.

Gott war nun aber wirklich schon sehr müde, und als er den Menschen eine Stimme geben wollte, hatte er das göttliche Wort vergessen, mit dem er die Töne erschaffen hatte.

Angestrengt überlegte er, bis er glaubte das Wort wieder gefunden zu haben. Dann holte er tief Atem und schenkte den Menschen den göttlichen Ton „OM“. So war die Sprache der Menschen geboren.

Wie du siehst, Jonas, besteht alles aus göttlicher Erde und alles bekam von Gott Leben und Liebe eingehaucht. Nur die Sprache unterschied sich. Zwar klingen „AUM“ und „OM“ sehr ähnlich, sie sind aber dennoch unterschiedlich. So kam es, dass die Menschen eine andere Sprache hatten und die Töne und Worte all der Dinge, die sie umgaben nicht verstehen konnten.“

„Und hat das Gott nicht bemerkt?“ fragte Jonas.

„Klar, Jonas“, Carlo lachte leise. „Er ist ja Gott. Und deswegen wusste er auch, dass alles im Leben, auch jedes Versehen, jeder sogenannte Fehler, einen Sinn hat. Er konnte sich also beruhigt in sein göttliches Bett legen und von seinem anstrengenden Werk erholen.“

„Aber ich verstehe immer noch nicht, warum ich dich jetzt hören kann“ meinte Jonas.

„Das ist doch ganz einfach. Gott hat allen Dingen und den Menschen seine ganze Liebe geschenkt. Und Liebe ist eine „Sprache“, die überall verstanden wird. Wenn du deine Mama liebst und dieses Gefühl ganz deutlich spürst, dann benötigt ihr keine Worte, um einander zu verstehen. Und selbst wenn ihr verschiedene Sprachen sprechen würdet, dann könntet ihr euch dennoch verstehen, weil die Liebe unmissverständlich ist. Ganz genauso verhält es sich zwischen Menschen und kleinen Stoffhasen oder anderen Dingen. Alles auf der Welt kann Liebe „fühlen“.

Am Vorabend von Heilig Abend ist die Liebe auf der Welt besonders groß. Und wenn die Liebe so groß ist, dann können Wunder geschehen.

Eines dieser Wunder ist, dass sich alle Wesen plötzlich verstehen können, die in Liebe miteinander verbunden sind. Und wenn du zum Beispiel auch dein Bett besonders liebst, dann könntest du auch das verstehen.“

„Das ist ja toll.“ meinte Jonas. „Nur schade, dass du nicht immer reden kannst.“

„Das ist nicht schlimm, Jonas, denn verstehen kann ich alles, was du mir erzählst. Und auch wenn ich nicht mit einer Stimme antworten kann, so kannst du mich in deine Arme nehmen und dann spürst du meine Liebe. Du weißt doch – Liebe braucht keine Worte.“

„Das ist so schön, Carlo,“ freute sich Jonas.

Eng kuschelten beide aneinander und flüsterten noch lange miteinander, bis Jonas die Augen zufielen und er in einen friedlichen Schlaf fiel…

Als wenig später seine Eltern das Zimmer betraten, blieb ihnen der fröhliche und friedliche Gesichtsausdruck ihres Sohnes nicht verborgen. Leise setzten sie sich neben das Bett des Jungen. Die Mama sah erst Jonas, dann ihren Mann zärtlich an und flüsterte ihm zu: „Es ist Weihnachten…, und du weißt doch, zu Weihnachten geschehen manchmal kleine Wunder…“



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