Handicap Love Schriftzug

Endlich wieder Pumps

Endlich wieder Pumps
Annäherungsversuchen an ein Fortbewegungsmittel


Wir hatten lange nichts miteinander zu tun.
Und das war mir auch ganz recht so.
Natürlich warst du, zumindest so lange ich denken kann, schon immer da.
Aber nie nah.
Natürlich hatte ich keine Berührungsängste oder gar Vorurteile gegen dich, und wenn du doch mal irgendwo auftauchtest, stand ich immer voll hinter dir. Auf deiner Seite eben, der richtigen Seite und - selbstverständlich hilfsbereit - auf der sicheren Seite.
Aber normalerweise drehtest du deine Runden außerhalb meines Freundes- und Familienkreises.
Ich konnte dich ganz einfach übersehen, weil du sowieso automatisch unterhalb meines Blickfeldes rangiertest. Oder oberhalb meines gewöhnlichen Horizontes, wo du untergingst im Schilderdschungel öffentlicher Plätze.
Wir bewegten uns einfach in verschiedenen Welten und das war gut so.
Fand ich.

Bis zum 17.12.2000.
Als der Oberarzt mir tröstend meine Diagnose zu erklären versuchte: “MS bedeutet ja nicht unbedingt Rollstuhl und wenn, dann wird es bei ihnen noch viele Jahre dauern.“
Rollstuhl?
Ich war wegen einer Sehnervenentzündung ins Krankenhaus gekommen und wurde kurz vor Weihnachten mit dieser unfrohen Botschaft nach Hause geschickt. Und vielen offenen Fragen. Die Neurologenpraxen hatten alle Weihnachtsferien. Also versuchte ich mir alleine anzulesen: was ist das nur für eine Krankheit, die 1000 Gesichter hat? Dabei stieß ich auf die dramatischsten Verläufe. Wahre Schreckensszenarien erschütterten mich bis ins Mark.
Was würde aus mir werden? Und aus meinen Kindern? Wohin würde diese unheilbare Erkrankung mich bringen? Würde mein Leben an den Rollstuhl gefesselt enden? Bald?
Der Oberarzt hatte den Rollstuhl zwar auf die lange Bank geschoben, aber warum hatte er ihn dann überhaupt erwähnt?
DAS Symbol für alle erdenklichen, körperlichen Einschränkungen (nicht selten auch für geistige und psychische) baumelte plötzlich wie ein Damokles Schwert über meinem Haupt. Alle meine Ängste saßen in dir fest, du Stuhl mit Rädern! Krankenfahrstuhl! AOK Chopper!

Wer bist du, der du weltweit undifferenziert dein Piktogramm für alle vorstellbaren Behinderungen hergibst? Das allen Menschen mit Handicap im Schilderdschungel des öffentlichen Raums Hinweise gibt, wo sie einen Platz für sich finden. Zum Beispiel einen Parkplatz. Oder eine Toilette.

Ich hatte die Seiten gewechselt. Ich stand nicht mehr auf der sicheren Seite. Hinter dir.
Ich sah mich in dir.

Inzwischen, gut 16 Jahre später, ist es so weit und du bist mir ganz nahe gekommen.
Heute stehst DU voll hinter MIR.
Bzw. unter mir. Ich schiebe dich nicht mehr, sondern lasse mir von dir unter den Hintern greifen. Weil ich eben denselben nicht mehr lange genug hochbekomme, um kleinere Ausflüge, die mir früher ohne Nachzudenken vom Fuß gingen, zu unternehmen.
Ich verteidige dich inzwischen sogar gegen Bekannte, die behaupten, ich bräuchte dich nicht. Sie meinen es nur gut und wünschten sich, dass ich dich nicht brauche. Sie haben keine Ahnung.
Und Angst.
Ich bin vom Rollstuhlfürchter zum Rollstuhlfahrer geworden.
Und das ist gut so.
Weil du nicht das Problem bist. Sondern ein Teil der Lösung.

Ich habe alles mir mögliche getan, um dir eine Abfuhr zu erteilen:
ich habe gelernt, mich selber zu spritzen, um mir regelmäßig Medikamente mit den unangenehmsten Nebenwirkungen unter die Haut zu jagen. Als das nicht mehr half habe ich mir sogar eine Chemotherapie reingezogen. Regelmäßige Krankengymnastik sowieso, auch eine Psychotherapie ließ ich nicht unversucht. Obwohl ich ein eingefleischter Couch Potatoe bin, verließ ich mein Sofa, um jahrelang ins Fitness Studio zu gehen. Ich habe mich durch die verschiedensten Ernährungsrichtlinien verkostet, bis hin zu Grünkohl zum Frühstück.
Hat alles nichts genutzt.

Oder vielleicht doch?
Ich habe immerhin kapiert, dass man für Fortschritte nicht unbedingt die eigenen Beine braucht. (Warum wusste ich das als Autofahrer nicht sowieso? zwinkerndes Smiley )
So gerne ich das auch tue. Aber: besser gut gefahren als dumm gelaufen. zwinkerndes Smiley
Oder gar nicht vorangekommen. Gar nicht mehr mitgekommen.
“Schritte sind Schritte durch Schritte, die nicht mehr sind.“ bringt Manfred Hinrich es für mich auf den Punkt. Konkret in meiner Situation: wenn meine Beine mir den Dienst versagen, ist der Schritt in den Rollstuhl für mich der richtige. In Richtung Bewegung. In Richtung Leben.
Und das Leben Bewegung braucht, wussten und formulierten schon die alten Philosophen zu allen Zeiten von Konfuzius, Heraklit über Pascal bis Grönemeyer. Ich buchstabiere das mit zunehmenden Lähmungen durch und schätze den Wert von Bewegung inzwischen viel höher.
Essentieller. Gerade auch den meiner eigenen, inzwischen sehr langsamen und unkoordinierten. Auch die Bewegungsfreiheit, die mir mein Rolli ermöglicht. (Nicht ganz unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle die geistige Beweglichkeit, die aber auch hier mal wieder viel zu weit führt.) zwinkerndes Smiley

Rollstühle transportieren keine Schrecken, sondern gehbehinderte Menschen. (Diese Erkenntnis haben manche Sanitätshausangestellte noch nicht verinnerlicht, die, obwohl sie die AOK-Chopper verkaufen, sich selbst für kein Geld der Welt hineinsetzen würden.)
Im Rolli zu sitzen bedeutet nicht Hilflosigkeit, sondern ein Hilfsmittel zu nutzen, um von A nach B zu kommen.

Meine Beine kämpfen immer noch um jeden Schritt. Inzwischen mit Unterstützung von orthopädischen Schuhen, Peronaeusstimulatormanschette ums Knie und Rollator.
Und das ist gut so.
Wenn auch, zugegeben, ein wenig martialisch und nicht besonders sexy.
Das ist der Rollstuhl genau so wenig.
Auch er öffnet mir längst nicht alle Türen und kann mir nicht alle Wünsche erfüllen.
Nur einige, kleine, langgehegte.
Zum Beispiel, endlich wieder Pumps zu tragen.

Kommentare

Schreib auch du einen Kommentar
 
(Nutzer gelöscht) 04.02.2017 18:41
@schirin

Liebe schirin.....ich hatte einen sehr "großen Berg" vor mir, als mein neues Leben im Rollstuhl begann.
Doch als ich bemerkte, dass ich mich nicht in einen " Oma Rollstuhl" setzen mußte, ging es mir schon etwas besser. lachendes Smiley Denn es gibt sie.....gutaussehende Rollstühle. lachendes Smiley)

In der Anfangszeit meines Rollstuhl daseins, trug ich meistens Jogginghosen und Turnschuhe, oder meine heißgeliebten Jeans und Kapuzenpullis.

Mit der Zeit fiel mein Blick auf die Frauen in ihren Kleidern und Röcken und ich dachte mir, dass müßte ich doch ebenfalls wieder tragen können, obwohl ich jetzt im Rollstuhl sitze. Gesagt, getan......

als ich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder ein Kleid anhatte, war es etwas ungewohnt, aber heute ziehe ich alles an was mir gefällt.

Warum schreibe ich das.....wenn es Dein Wunsch ist, wieder einmal Pumps zu tragen und es ist machbar, dann tu es...... lachendes Smiley)
 
Schirin 04.02.2017 19:55
Ja, sich in den Rollstuhl zu setzen war auch für mich das erste Mal ein "großer Berg". Obwohl ich mich ganz gerne wi(e)dersetze. zwinkerndes Smiley
 
(Nutzer gelöscht) 04.02.2017 20:09
Ich weiß was Du meinst. lachendes Smiley Doch ich muß einmal recherchieren, wer den Rollstuhl überhaupt erfunden hat. Denn gäbe es keine Rollstühle.......
 
(Nutzer gelöscht) 04.02.2017 20:22
Gewöhlich kopiere ich nicht so gerne einen link zu meinem Kommentar, aber vielleicht interessiert sich jemand für die Geschichte des Rollstuhls. lachendes Smiley

Sollte das Thema jetzt nicht passen@schirin, lösche bitte meinen Kommentar. lachendes Smiley

http://www.ihre-gesundheit.tv/historie-der-medizin/zur-geschichte-des-rollstuhls/
 
Thohom 06.02.2017 10:52
Ist das wahr? @ Schirin
Kommen die Pumps wirklich wieder raus?

Ich finde, Du hast richtig beschrieben, dass ein Rollstuhl ein Hilfsmittel ist, das Mobilität verspricht. Du hast genauso erwähnt, dass es eine eingeschränkte Mobilität ist.

Nun kommen Deine Siebenmeilenstiefel dazu. Auch wenn es vielleicht nur Siebenschrittestiefel sind, könnten sie, wo der Rollstuhl aufgeben muss, Dir weiter helfen. Einfach aufstehen, ich habe verstanden, dass das geht und dann die kurze Strecke aufrecht bewältigen.

Solange es geht, könntest Du dieses Zwitterwesen mit den Siebenmeilenstiefeln und dem Rollstuhl bleiben.....Pumps könnten Dich dekorativ im Rollstuhl sitzen lassen.

Just my 10 Cent.
 
Schirin 06.02.2017 23:24
@ Thohom:

Du hast es voll erfasst: meistens bin ich ein kämpfendes Zwitterwesen!
Aber manchmal will ich mich auch einfach nur zurücklehnen und Frau sein! zwinkerndes Smiley
HerzJetzt kostenlos registrieren